Dienstag, 26. August 2014
Cloud
Ich beschloss zu denken. Das erste mal fiel es mir auf, als ich mir in einem Kaufhausfenster gegenüber stand. Es war keine besondere Gelegenheit, es ist nichts anderes an diesem Tag davor passiert von dem ich berichten könnte, ich weiß nicht was mich darauf Aufmerksam gemacht hat. Ja es war nicht mal Winter, oder zumindest verregnet an diesem Tag, als das ich über so etwas nachzudenken brauchte. Ich stand mir gegenüber, erwiderte meinen Blick und dann fiel es mir auf. Hätte mich die Sonne nicht geblendet, hätte ich wohl nicht in die Kaufhausscheibe gesehen. Ich sah es nicht direkt, dachte alles wäre so wie immer – ich bewertete mich im Fenster. Ich war zufrieden. Dann sah ich in mein Gesicht. Es war total regungslos. Kein Gefühl und keine Bewegung. Es sollte so aussehen. Ich wollte das es so aussieht, aber ich habe bis zu diesem Zeitpunkt nie darüber nachgedacht warum ich das wollte. Warum hätte ich auch darüber nachdenken sollen, man sieht nicht in einen Spiegel und nimmt sich vorher vor etwas bestimmtes zu sehen. Es gehörte einfach zu mir, so habe ich es schon immer gemacht, seit ich denken kann. Ich sehe mich an und alles muss so starr wie möglich sein. Ich mochte es nicht, mich zu sehen und dabei vielleicht eine kleine Falte unter meinem Kinn zu entdecken. Oder zu breite Backen. Und danach bewertete ich mich. Wie kühl kannst du sein, wie gelassen, denn darauf warst du Stolz und das wolltest du sein und das wolltest du ausstrahlen - denn darauf schaut man. Darauf schaust du. Ich war Stolz, wenn ich in den Spiegel sah. Nur nicht in dem Augenblick als mir das klar wurde. Ich sah mich weiter starr an, verdrehte dabei aber meinen Kopf leicht. Ich beschloss nachzudenken. Ich durchlief meinen Tag gedanklich, beobachtete mich dabei wie ich durch die Straßen ging und nach dies und jenem aus schau hielt, versunken in meinen Gedanken andere Menschen taxierte und immer wieder einen gewohnten Blick auf etwas richtete in dem ich mich sehen konnte. Ich bewertete mich. Und andere. Daran was ich war und was sie waren. Gemessen daran, welches Gefühl ich hatte, wenn ich die anderen sah und wenn ich mich sah. Es gewinnt der, der unnahbar ist. Denn darauf schaut man und das hat Wirkung. Ich wusste es nicht, ich habe es einfach gemacht. Jeden einzelnen Tag, seit vermutlich langer langer Zeit. Wenn mir mein Spiegelbild einen Makel preisgab, sei es nur ein Schatten der mich fülliger erschienen ließ, dann war ich unzufrieden. Und ich musste mich in einem weiteren Gegenstand sehen und erkennen, das ich noch unzufriedener wurde. Immer öfter und immer mehr, bis es Abend wurde. Wenn ich müde war, sah ich gut aus, denn dann hatte ich Ausdruckslosigkeit in meinem Gesicht stehen. Dann war ich kalt. Dann sah ich verwegen aus. Dann konnte ich schlafen und meine Unzufriedenheit war ersatzlos verflossen. Ich wusste nicht, dass mir das alles so geschehen war, es war so unbedeutend und schließlich musste ich ja auch nicht daran denken. Das nächste Mal, wenn ich wieder einen Schatten in meinem Gesicht entdeckte, war es, als ob ich ihn zum ersten Mal sah, ich erinnerte mich nicht, ich wusste nicht das ich mich bewerte, nicht so. Das ganze von neu. Unzufriedenheit und noch viel schlimmer, Unzufriedenheit in meinem Gesicht und ich musste es sehen. Ich wollte Belanglosigkeit sehen, denn darauf schaut man und daran hat man Interesse. Das hat Wirkung auf andere.
Etwas bewegt sich in meinem Angesicht und ich muss feststellen das sich eine Frau auf der anderen Seite der Fensterscheibe befindet die versucht mir zu verstehen zu geben ,dass ich weggehen soll. Ich muss wohl schon eine ganze Weile vor meinem Spiegelbild gestanden haben. Ich sehe sie Gleichgültig an und muss mir ein lächeln verkneifen als ich sehe, dass sie das verwirrt. Ein paar Sekunden verharre ich so, blicke sie durchdringend an. Dann ein einziger Wimpernschlag und ich drehe mich um, in dem Wissen das ich sie beeindruckt habe, ohne irgendwas getan zu haben. Das fühlte sich gut an, das verstand ich, aber ich wollte jetzt nach Hause.
Es war schon früher Abend, an der Bushaltestelle wartete ein kleines Mädchen. Ich musterte sie. Ein hellbrauner Schopf, ihre bleiche kindliche Haut und ihre blassen Lippen ließen sie völlig unscheinbar aussehen. Sie beobachtete zwei Tauben die sich um ein Brotstück stritten. Ihre Züge blieben dabei reglos, ihre Augen gläsern. Ich erkenne mich und es gefällt mir, aber es lässt mich stutzig werden. Dieses Kind legt keinen Wert darauf, irgendwie Wirkung zu haben oder über sich nachzudenken. Es sieht eher unschuldig aus und diese Unschuld war es dass so kühl aus sah. Mein Auftreten war auch kühl, aber ich war nicht unschuldig und ich sah auch nicht unschuldig aus. Ich hatte auch noch nie darüber nachgedacht ob ich so aussehen wollte. Ohne Schuld sein – ja, aber unschuldig wirken wohl eher nicht. Nun gut, es waren viele kleine Laster die ich mit mir rumschleppte, aber es waren eben nur Laster, das hatte ich vor langer Zeit erkannt und beschlossen keinen Gedanken mehr daran zu verschwenden. Ich war Stolz darauf so besonnen gewesen zu sein und kleine unwichtige Sorgen aus meinem Leben gestrichen zu haben, aber irgendetwas daran störte mich gerade. Bevor ich diesen Gedanken weiter auf den Grund gehen konnte fuhr schon mein Bus vor. Als ich einsteigen wollte wäre ich beinahe über das kleine Mädchen gestolpert, das zur Fahrertür rannte. Ich ging hinterher, nickte dem Busfahrer zu und ging den Gang entlang. Es war einer von diesen Fernbussen, mit trüben aber warmen Licht. Das Mädchen setzte sich in eine Viererkachel. Außer mir und dem Kind saßen noch zwei andere Personen mit uns im Wagen. Eine Alte Frau, eingepackt in dicken Schichten aus Filz und ein kahler Mann mit Aktentasche der an seiner Brille kaute. Er schaute mit kleinen müden Augen nach draußen. Ich hatte kein großes Interesse mehr daran über das Mädchen nachzudenken und wollte es auch nicht mehr sehen, also setzte ich mich im hinteren Teil des Busses auf einen Platz. Ich lehnte meinen Kopf an die Scheibe und versuchte die Spiegelung von mir nicht direkt zu sehen. Auf einmal wurde mir klar warum ich das nicht wollte. Das Glas bestand aus zwei Scheiben, was zwei Projektionen von mir bedeutet die ich leicht versetzt zu einander wahrnehmen würde. Das wiederrum würde mich dick erscheinen lassen. Zusammen mit dem diffusen Licht und der Dunkelheit draußen, würde mich dieser Anblick stören. Mir war nicht klar, dass ich das alles so routiniert tat und auch schon so effektiv, denn würde ich meinen Kopf nicht ganz eng an die Scheibe drücken, sondern in eine andere Richtung blicken würde ich Gefahr laufen mich inder Spiegelung auf der anderen Seite des Busses erneut in ungünstiger Ausleuchtung zu sehen. Das störte mich, denn so ein Verhalten war gänzlich Glanzlos und weder Gelassen noch Unnahbar. Bestimmt habe ich das aber schon so weit verinnerlicht, als das ich dabei ganz teilnahmslos drein Blicke, was mich zumindest nach außen hin anders wirken lässt. Schleichend verziehe ich bei diesem Gedanken das Gesicht, denn was für ein Mensch auf der Welt würde sich bei einer Person die in einem Bus hockt und ihren Kopf an eine Scheibe lehnt, fragen wie würdevoll dieses Auftreten gerade ist? Ich stelle mir vor, wie ich langsam von dem Fenster weiche um mein Spiegelbild ansehen zu können - um somit die Antwort auf meine Frage sprichwörtlich vor Augen zu haben. In Weiser Voraussicht lasse ich das sein. Ich schließe die Augen und versuche abzuschalten, es wird noch eine gute halbe Stunde dauern bis meine Haltestelle kommt und ich möchte mich jetzt nicht mehr mit mir beschäftigen.
Ein paar Reihen weiter vorne sitzt Charlie neben dem Mann mit der kahlen Stirn. Zunächst hatte sich dieser Mann direkt auf Charlie gesetzt. Auch wenn das keinem der beiden irgendetwas ausgemacht hätte, denn der Mann kann Charlies Berührung ebenso wenig spüren wie Charlie die seine, so müsste Charlie doch die ganze Zeit das Gehirn des Mannes von innen sehen und so Interessant er das auch fand, war es doch etwas zu viel Interesse am Ende eines langen Tages. Charlie aß aus einer Tüte Sonnenblumenkerne und spuckte dabei die Schalen auf den Boden während er den Mann durchdringend ansah. Mittlerweile waren seine Augen ganz rot geworden, seine Stirn war faltig und es brauchte keinen Genie um zu erkennen, dass irgendetwas nicht stimmte. Charlie wusste was mit Eric nicht stimmte. Seine Frau war vor drei Monaten zum Arzt gegangen und in Tränen zurückgekehrt - sie hat Krebs. Seit Jahren kann er seinen Beruf aufgrund einer alten Schulterverletzung nicht mehr ausüben und muss umschulen, kommt dabei aber leider nicht zurecht. Eric war Bäcker. Schon früh wollte er die Bäckerei seines Vaters übernehmen. Dort hatte er seine erste Liebe kennen gelernt und ihr jeden Montag, wenn sie mal wieder gekommen war um Brote zu kaufen, ein paar warme Semmeln zusätzlich in den Beutel gesteckt. Sie wurden ein Paar. Mit Achtzehn Jahren wurde seine Freundin schwanger, aber er verließ sie. Das bereute er jeden Tag für den Rest seines Lebens und nie wieder hat er so einen Fehler wieder gemacht, nie weider. Er war darum bemüht ein Besserer zu sein und als er Jahre später seinen Sohn kennen lernen wollte, bekam er einen formellen Brief mit der höflichen, aber bestimmten Aufforderung jegliche weitere Kontaktaufnahme zu unterlassen. Er hatte auch zwei goldene Sommer mit der Mutter seiner Sohnes, sie waren beide sehr jung und zum ersten mal verliebt. Mit bitter-süßen Gefühlen erinnert er sich in der ersten Hälfte seines Lebens daran, muss aber einsehen, dass es keinen Zweck hat und dachte in der zweiten Hälfte nicht mehr darüber nach. Manchmal weint er trotzdem des Nachts und weiß genau wieso. Charlie wird sich nicht einmischen. Es wird tatsächlich ein bisschen mehr Hoffnung in Erics Leben zurückkehren und der abheilende Krebs seiner Frau gibt ihm die Kraft seine Umschulung zu bestehen, er wird weiterhin bescheiden Leben und auch weiterhin des Nachts weinen, aber Eric wird etwas empfinden was er später als große Dankbarkeit erklären wird, gegenüber etwas, an das er früher mal geglaubt und jetzt wieder gefunden hat. Charlie steht auf. Er geht den Gang entlang in den hinteren Abschnitt des Wagens. Als er an der alten Frau vorbeigeht, berührt er sie sanft am Arm, denn er sieht, dass sie Angst hat und er will ihr die Angst nehmen. Und die Angst wart ihr genommen. Am Ende des Ganges sieht er einen jungen Mann schlafen. Charlie steckt sich kauend einen weiteren Sonnenblumenkern in den Mund. Er blickt nach draußen und hält einen Moment lang inne, als ob sich an etwas erinnern müsste, nimmt eine Schale aus seinem Mund und schnippt sie dem Jungen mit den Fingern ins Gesicht.
Abrupt wache ich auf, eine Fliege ist mir gegen die Nase geflogen, ich will sie weg schlagen, doch ich sehe meine Haltestelle näher kommen und drücke gerade noch rechtzeitig den Halteknopf. Ich muss eingenickt sein und mir ist außerdem total kalt geworden. Der Bus hält an und ich steige rasch aus, im vorbeigehen sehen die alte Frau und der Mann beide so aus, als hätten sie geweint. Draußen ist es auch kalt geworden und ich sehe meinen Atem als ich meine Backen kurz aufplustre. Von hier hatte ich noch ein Stückchen zu gehen bis nach Hause, trotzdem erinnerte ich mich erst als ich die Tür zu meiner Wohnung aufschloss, daran, was mich den ganzen Weg lang beschäftigt hatte und was mich heute den ganzen Tag schon beschäftigte. Ich war überrascht, als hätte ich mir meine Gedanken ein weiteres mal völlig neu erschlossen, wollte aber noch nicht daran weiter tüfteln. Ich koche mir Tee auf und streue Zimt dazu, sodass es ein bisschen nach Punsch schmeckte. Bis dieser abkühlt beschließe ich einmal heiß zu Duschen und mich bettfertig zu machen. Anschließend nehme ich mir meinen Tasse und hocke mich mit einer Decke in meinen Sessel. Eine Weile lang verharre ich so, meine Gedanken fest an dieses eine Thema klebend. Danach stehe ich auf und rücke meinen Fernseher so gegenüber meinen Sessel, dass ich mich darin sehen würde. Erneut setze ich mich hin. Ich erkenne nur Umrisse meiner selbst, aber es reicht um einen kleinen Gedanken in mir keimen zu lassen, von dem ich jetzt noch nichts ahne. Ich blicke tief in das Schwarz das meinen Kopf ausfüllt und habe die Hoffnung daraus irgendwie schlauer zu werden. Ich frage mich, ob man zu seinem eigenen Spiegel werden kann, wenn man nur lange genug hineinsieht. Lange. Und genug.
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