Montag, 27. Juni 2016
Die Kreatur
Ein Mensch wird geboren. Nein, Moment. Ein Mensch wird geplant. Zumindest ab und an. Er wird geplant, geboren und erzogen. Er wird gelehrt und in den heutigen Tagen selten gelehrig. Zum Anfang hin ist das Polaroid Bild in seinem Kopf noch leer, er fühlt sich verloren in der Welt, fühlt die Leere. Mit suchenden Augen bildet er alles darauf ab, versucht das Bild zu entwickeln, es stimmig zu machen. Er weiß nicht, das er es mit rostigen Nägeln auf die dünne Schicht ritzt auf dass es sich einbrennt, tief ins Fleisch. Und wenn er es endlich gefüllt hat, und es stimmig ist, dann hält er sich daran fest, macht es zu seinem Anker und zu seinem Kompass in der Welt, umschließt es, drückt es fest an sich, lässt sich davon wärmen. Auch wenn es um ihn herum kalt ist und der Wind so stark auf seinen Rücken peitscht, das jede Wehe ihn in die Haut schneidet bis es brennt, so klammert er noch fester an sein Bild und hält durch, hält es aus, bewältigt alles, erträgt es, nimmt es hin. Erduldet es. Das Bild das er endlich entschlüsselt und verstanden hat, selber gezeichnet, gibt ihm so viel Hoffnung, das er die Schnitte nicht mehr spürt. Er spürt sie nicht, nicht mehr und kann es selber auch nicht glauben. Endlich spürt er sie nicht mehr, das hat er so sehr gewollt, so sehr gesucht und das Bild gibt ihm den Glauben. Er sieht nicht, wie sehr sein Rücken blutet, fühlt nicht die Entzündung jeder einzelnen Wunde, er hält stand. Das Bild an seine Brust gepresst wärmt ihn, seine Tränen eisig, doch fast mit Stolz getragen, kauert er da und wartet darauf dass der Sturm vorbezieht. Alles was ihm wichtig ist, ist auf dem Bild, alles was ihm Angst macht und alles was ihn aus macht ist auf dem Bild. Das Bild ist er. Und der Sturm geht vorbei. Als ob es nur ein Hauch war, so kommt es ihm vor. Geschafft, am Ziel, gekämpft. Er blickt sich um... Die Welt ist ruhig. Kein zerschlagenes Holz, kein durcheinander, kein Sturm. Wenn er sich nur selbst sehen könnte, er würde es nicht verstehen. Um ihn herum eine ruhige, heile Welt. Unbekümmert, ja fast Sommer und er mitten darin.
Sein Körper eine zerstückelte Schale, volle Eiter und getrocknetem Blut, jede Bewegung müsste ihn Schmerzen als ob er der Hölle selbst aus dem Rachen gesprungen wäre. Die Haare dünn und seine suchenden Augen weinen nicht, sie bluten. Er sieht sich um, sieht die Welt und versteht es nicht. Er versteht es nicht. Ist nicht fähig zu verstehen. Er fühlt nichts. Nichts mehr. Das Bild nahm ihm die Schmerzen, aber er fühlte jetzt auch das Bild nicht mehr. Er muss es ansehen. Muss es sehen, um zu verstehen, das wird ihm den Weg weisen.
Er lockert seine Arme, sie sehen abscheulich aus. Er sieht seine Hände, sie sind alt und rußig. Er blickt herab. Das Bild zeigt ein Insekt. Hat lange dünne Beine. Hat schreckliche Mundwerkzeuge. Hat einen Mund. Es lacht. Ein Mensch wird geboren. Er wird vielleicht geplant. Er erhält Liebe und Unsicherheit. Er bekommt ein Leben, die Fähigkeit zu Glauben und zu Tun. Er erfährt Liebe. Und Unsicherheit. Er erfährt was es heißt zu leben. Ihm fehlt es an nichts, er lebt ein völlig normales leben. Ein völlig normales Leben. Er erfährt Liebe. Er beginnt nichts mehr zu fühlen. Er sieht ein Tier, ein Tier der selben Welt, die er erfahren darf. Er packt es sich, und hält es fest. Es will entkommen. Rauft sich hin und her, versucht zu beißen. Das macht ihn Wütend, er schlägt es. Reißt an ihm, schneidet es. Er versucht ihm Liebe zu geben, doch das Tier lässt es nicht zu. Er bricht aus, kratzt, schlägt um sich, schlägt darauf ein. Er züchtet es. Er versucht ihm Liebe zu geben, doch es erwieder nicht. Er häutet es, steckt ihm den Pelz in den Mund, tötet seine Kinder vor seinen Augen. Es liebt ihn nicht. Er wirft es in den Müll. Er lebt ein zweites Leben. Fühlt keine Schuld, nichtmal Hass. Er zerstört, ja, aber nicht mutwillig. Sondern beiläufig.
Charlie weiß nicht weiter. Einen Augenblick lang wollte er zusehen, um es zu verstehen. Doch dann wurde eine Grenze übertreten die er nicht Rückgängig machen kann. Er wollte eingreifen, doch als er seine Hand ausstreckte, fühlte er wie es fast auf ihn Übergesprungen wäre. Er sah die Kreatur an. Sie lebte, eindeutig. Sie konnte denken. Aber sie fühlte nicht. Sie wurde nicht geboren. Das was sie früher einmal war, wurde geboren und geliebt. Charlie verstand nicht was passiert war. Er konnte nicht eingreifen. Er würde sie alleine lassen, mit all ihren Fragen, bis die Kreatur von dieser Welt verschwinden würde, würde er sie alleine wandern lassen. Charlie musste zum ersten mal alles überdenken. Ihm schien es als konnte die Kreatur ihn sehen. Sie war ansteckend.
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